Von der Entdeckergruppe zur Gemeinde

Jesus hat keine Megagemeinde gegründet, sondern Menschen geprägt, geheilt und ausgesandt. Kennzeichen seiner Nachfolger soll ihre Liebe zueinander sein. Was bedeutet das für die Gemeindestruktur?

Sonntagmorgens um 10 Uhr, ein untypisch möbliertes Wohnzimmer in einem größeren Privathaus: am Fenster ein Rednerpult, davor Klappstühle in Reihen. Der Gottesdienst beginnt mit der Begrüßung, es folgen Lieder, Zeugnisse, Ansagen, Gebete und eine Predigt. Derselbe Ablauf wie in vielen Gemeinden. In anderen Zimmern im selben Haus tummeln sich verschiedene Kindergruppen. Warum trifft man sich in einem privaten Wohnhaus? Oftmals hört man zur Erklärung, man sei schon länger auf der Suche nach „richtigen Gemeinderäumen“, vor allem für den Gottesdienst. Dann könne die Gemeindegründung auch so richtig durchstarten. Daran wird deutlich: Ein Privathaus, das als Gemeindehaus dient, ist noch lange keine Hausgemeinde. Egal, ob eine Gemeinde klein oder groß ist: Oftmals ist der sonntägliche Gottesdienst als Veranstaltung von zentraler Bedeutung und wer davon spricht, „in die Kirche zu gehen“, meint in der Regel den Gottesdienstbesuch.

An Liebe erkennen

Als Jesus zu Petrus sagte: „Ich will meine Gemeinde bauen!“ (Mt 16,18), dachte er mit Sicherheit nicht an ein tolles Gemeindegebäude, an eine Megaveranstaltung oder an einen tollen Prediger, der die Massen begeistern konnte. Denn das hätten seine Nachfolger notfalls aus eigenen Kräften leisten können. Eins können wir Menschen aber niemals ohne Jesus: eine liebevolle Gemeinschaft untereinander schaffen. Deshalb glauben wir, dass in dem Satz von Jesus eine viel tiefere Bedeutung steckt. Jesus wollte und will unter seinen Nachfolgern eine Gemeinschaft schaffen, die nicht von dieser Welt ist. Eine solche Gemeinschaft gelingt nur durch Jesus: „Ich gebe euch ein neues Gebot: Liebt einander! Ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe. An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid“ (Joh 13,34f). Zum Aushängeschild der Christen erklärte Jesus nicht die Veranstaltungen oder ein attraktives Gebäude, sondern die liebevolle Gemeinschaft untereinander. Ganz ähnlich formuliert es Johannes in seinem Brief: „Denkt an das Gebot, das Gott uns gegeben hat: Wer Gott liebt, ist verpflichtet, auch die Geschwister zu lieben“ (1Joh 4,21).

Welche Form?

Wenn der Fokus auf liebevoller Gemeinschaft liegt, stellt sich die Frage, welche Form von Gemeinde am besten dazu passt. Welche Strukturen fördern eine liebevolle Gemeinschaft am besten? Ein Gemeindekonzept rund um ein großes Gebäude? Oder lassen sich liebevolle Gemeinschaften nicht viel besser in einfachen Strukturen von Häusern und Wohnungen formen? In der Apostelgeschichte lesen wir, dass sie sich täglich in den Häusern trafen und ihre gemeinsamen Zeiten von Herzlichkeit und überschwänglicher Freude geprägt waren. Deshalb haben wir uns im Weserbergland auf diese einfachen Strukturen eingelassen und treffen uns bewusst nur in Häusern. Wir nennen unsere Treffen „Hausgemeinschaften“.

Wir sind überzeugt, dass sich vor allem die Beziehungen untereinander in kleinen, überschaubaren Hausgemeinschaften besser und glaubwürdiger gestalten lassen. Mit Menschen, die im Alltagsleben als Familie, Freunde oder Kollegen miteinander unterwegs sind und die nicht nur zweimal pro Woche in einer gemeindlichen Veranstaltung sitzen und auf den Hinterkopf ihres Vordermannes blicken. In einer solchen Häuserstruktur gehen nicht Menschen zur Kirche, sondern die Kirche etabliert sich dort, wo die Menschen sind. Noch wichtiger: Im Zentrum des Gemeindelebens stehen nicht Veranstaltungen, sondern Beziehungen – in einer dreifachen Ausrichtung: Liebe zu Gott, Liebe untereinander und zu den Menschen außerhalb der Gemeinde.

Tiefe Verbindung

Die wöchentlichen Hausgemeinschaften sind unsere wichtigsten Treffen. Aber unsere tiefe Verbundenheit zueinander geht über diese Treffen hinaus: Wenn einer Hilfe, Unterstützung, Trost, Ermutigung, Gebet oder Geld braucht, ist die Hausgemeinschaft für ihn da. Gemeinsam lacht man und gemeinsam weint man. Wir verbringen auch innerhalb der Woche miteinander Zeit, um füreinander da zu sein. Wir gehen eine tiefe Verbindung miteinander ein – und das ist manchmal sehr herausfordernd. Bei den wöchentlichen Treffen fordern wir voneinander gegenseitige Rechenschaft und fragen: Wie hast du den Auftrag, Menschen von Jesus zu erzählen, in der vergangenen Woche gelebt? Wo hast du gesündigt und warum? Die gegenseitige Korrektur ist uns wichtig, denn wir wissen, dass wir Christus ähnlicher werden sollen (Röm 8,28-30). Gleichzeitig ermutigen wir uns gegenzeitig dazu, die guten Werke zu tun und den Auftrag zu leben, andere zu Jüngern zu machen. Es geht um ein ganzheitliches Leben miteinander. Eine solche liebevolle Gemeinschaft der Rücksichtnahme und des Miteinanders kann nur Jesus schaffen und dieses Bewusstsein schärfen. Wir versuchen aber gezielt, die Gruppen, die im Weserbergland entstehen, in diesen Prozess zu führen und sie zu liebevollen Gemeinschaften zu formen. Jeder Einzelne lernt, seine Verantwortung in der Gemeinschaft zu sehen und danach zu handeln. Wenn Christus mich liebt, dann darf auch ich meinen Nächsten lieben. Wenn Christus mir vergibt, dann darf auch ich meinen Geschwistern vergeben. Wenn Christus Frieden schafft, dann soll auch ich Frieden stiften zwischen meinen Geschwistern. So kann liebevolle Gemeinschaft entstehen!

Solche Hausgemeinschaften sind mehr als Hauskreise einer lokalen Gemeinde. Hauskreise sollen üblicherweise den Gottesdienst ergänzen und werden nicht selten sogar als durchaus verzichtbares Anhängsel empfunden. Hausgemeinschaften sind auch mehr als Hauszellen in einem Zellgemeinde-Konzept, das meist hierarchisch und zentralistisch aufgebaut ist. Und Hausgemeinschaften sind eben auch viel mehr als ein Gottesdienst im Wohnzimmer.

Richtige Gemeinde?

„Wann ist man denn nun eine richtige Gemeinde?“ Häufig haben wir diese Frage schon gehört. Aus dem Neuen Testament lässt sie sich wohl kaum mit dem Hinweis auf Mitgliederzahlen, Strukturen, Ämter oder Veranstaltungen beantworten. Fast alles davon ist kulturell bedingt, was man schnell sieht, wenn man in Gemeinden anderer Länder blickt. Unserer Ansicht nach hat die Frage nach der Qualität von Beziehungen eindeutig Vorrang vor der Frage nach Quantität. Will heißen: Keine bestimmte Anzahl von Menschen oder ein Gebäude macht eine Gemeinde aus, sondern ob sich die Zugehörigen durch Liebe und Gemeinschaft untereinander auszeichnen.
Wenn im Neuen Testament die Gemeinden im Haus von Priska und Aquila, Aristobul, Narzissus, Nympha und anderen erwähnt werden, dann sind diese Hausgemeinden ein legitimer Ausdruck von Gemeinde Jesu – eine „richtige“ Gemeinde also, von denen es in Metropolen wie Ephesus oder Rom viele gegeben haben muss. Pro Haus gehörten vielleicht zehn, 20 oder 60 Personen dazu – je nach Platz und Gegebenheit. Diese einfachen Strukturen hat es in der gesamten Kirchengeschichte gegeben und nicht selten wurden ihre Anhänger von der offiziellen Kirche als Häretiker oder Sekten ausgegrenzt und bekämpft. In jüngerer Zeit sind sie geradezu ein Kennzeichen von Gemeindegründungsbewegungen wie auch anderen Erweckungen etwa in China oder Indien.

Wann Gemeinde?

Wie wird nun ganz praktisch aus einem evangelistischen Entdecker-Bibelkreis, in dem sich Menschen erst einmal nur zum Bibellesen treffen, eine Hausgemeinde? Oder ist diese Entdeckergruppe sogar schon Gemeinde? Es hilft, diese Frage aus der Perspektive von Jesus zu stellen: Wann würde er wohl sagen, dass es sich um eine „richtige“ Gemeinde handelt? Oder wird ihn diese Frage überhaupt beschäftigen?

In einigen Regionen nutzen wir die drei Trainings „Gott entdecken“, „Auftrag entdecken“ und „Gemeinschaft entdecken“. Das Ziel dieser Trainings ist, dass Menschen Gott und seine gute Nachricht kennenlernen, dass sie fähig gemacht werden, diese gute Nachricht wiederum weiterzugeben, und dass sie die Grundlagen für eine „liebevolle Gemeinschaft“ verstehen und leben. Für uns sind diese „liebevollen Gemeinschaften“ genau das, wovon in der Apostelgeschichte und in den neutestamentlichen Briefen immer wieder die Rede ist: Es sind Gruppen von Menschen, die gemeinsam Jesus nachfolgen, sein Wort im Mittelpunkt haben, zusammenhalten, sich gemeinsam an sein Wirken erinnern. Menschen, die beten und fasten, anderen helfen, gemeinsam essen, loben, bekennen, sich leiten lassen, taufen und die vor allem nicht schweigen können von dem, was sie von Jesus gehört und mit ihm erlebt haben.

Auch wenn solche Gruppen manchmal klein sind, wäre es doch sehr merkwürdig, sie nicht als Gemeinden zu bezeichnen. Gruppen, die aus einem Entdeckerbibelkreis entstanden sind, würden gar nicht die Frage verstehen, ob sie Gemeinde sind oder nicht – schließlich kennen sie gar nichts anderes. Bisher jedenfalls haben uns so entstandene Gruppen noch nie gefragt, ob sie denn jetzt richtige Gemeinde seien. Wir selber sprechen dann von Gemeinde, wenn eine Gruppe Gott kennen und lieben gelernt hat, wenn sie ihren Auftrag lebt und zu einer „liebevollen Gemeinschaft“ geworden ist. Problematisch ist gelegentlich die Integration von Christen aus klassischen Gemeinden oder Kirchen. Sie finden ihr bisheriges Gemeindeverständnis bei uns am ehesten auf der Ortsebene wieder. Dort treffen sich ein- bis zweimal im Monat mehrere Hausgemeinschaften aus einem Ort. Diese Zusammenkünfte eignen sich aus ihrer Perspektive gut als Gottesdienstersatz, weil sie mehr klassische Elemente enthalten, sind aber aus unserem Verständnis nicht das eigentliche Gemeindeleben, das von der liebevollen Gemeinschaft geprägt ist. Eine solche einfache Gemeindeform kann allerdings tatsächlich anstrengend sein – weshalb klassisch geprägte Christen sie manchmal scheuen. Bei jedem Treffen sind alle in irgendeiner Art und Weise persönlich gefordert: als Gastgeber, beim Blick zurück in die vergangene Woche, beim Blick nach oben in Gottes Wort, beim Blick nach vorne in die konkrete Umsetzung in meinem Alltag und beim gemeinsamen Essen. Verstecken ist nahezu unmöglich, Plätze in der zweiten Reihe sind nicht vorhanden. Das fordert heraus – formt aber auch eine starke, intensive und im besten Fall liebevolle Gemeinschaft.

Merkmale

Was sind die Kennzeichen einer „liebevollen Gemeinschaft“? Eine Grundlage für unser Training „Gemeinschaft entdecken“ ist die Aufforderung von Paulus im Kolosserbrief 3,12-17, in der er ganz praktisch beschreibt, wie eine „liebevolle Gemeinschaft“ aussieht. Folgende Merkmale prägen wir in unserem Netzwerk:

Als liebevolle Gemeinschaft

  • gehören wir zu Gottes Familie,
  • leben wir miteinander Gastfreundschaft
  • formen wir einander,
  • vergeben wir einander,
  • lieben wir einander selbstlos,
  • stiften wir Frieden,
  • ermutigen und korrigieren wir einander,
  • bleiben wir einander treu,
  • stellen wir Christus ins Zentrum.

Wie bei allen Trainings vermitteln wir diese Inhalte auch bei „Gemeinschaft entdecken“ nicht frontal, sondern die Gruppen entdecken sie gemeinsam anhand von verschiedenen Bibeltexten. Es gibt also im Lauf der Entwicklung keinen Bruch in der Art und Weise, wie wir die Bibel lesen. Natürlich ist eine Gruppe auch nach einem Training nicht perfekt, aber sie trägt eine gesunde DNA in sich. Sie weiß, wie sie Gottes Wort erschließen kann. Sie weiß, wie sie das Evangelium weitergeben und neue Gruppen gründen kann, und sie weiß, dass sie eingebettet in ein Netzwerk aus anderen Gruppen Gottes Reich bauen kann.

Dieser Artikel ist auch im Brennpunkt 2019-03 auf Seite 8 zu finden.

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